Putins Sackgasse
Der Krieg Putins IN der Ukraine, den er gleichzeitig GEGEN die westliche Welt führen will, ist in eine neue Phase eingetreten. Die „Referenden“ mit den geladenen Gewehren und den gläsernen Urnen waren ja nur ein primitiver Einstieg in ein schon länger geplantes Szenario: ein Teil der Ukraine wird zu russischer Erde erklärt, um anschließend jegliche militärische Aktivität der Ukraine als Angriff auf Russland darzustellen. Unklar ist, wie Putin militärisch agieren wird. Die „Teilmobilisation“ war de facto der Beginn einer Ausreisewelle junger Männer. Sie flüchten aus ihrem Land in alle Richtungen. Das Chaos muss so schlimm sein, dass selbst der Einpeitscher im russischen TV, Wladimir Rudolfowitsch Solowjew nur mehr verzweifelt am Bildschirm erscheint. Derselbe Solowjow, der noch vor wenigen Wochen den deutschen Bundeskanzler Scholz als Nazi beschimpfte und mit Atomraketen auf Berlin gedroht hat, sitzt jetzt in seinem Fernsehstudio und beklagt die verweichlichte Jugend und die schlechte Verfassung des Militärs. Die Yachten der Oligarchen seien besser ausgerüstet als die Kriegsschiffe Putins.
Patriotismus als Lüge
Sie sahen nicht wie Sieger aus, die überwiegend älteren Männer mit oft aufgedunsenen Gesichtern, die gestern Nachmittag dem Diktator zuhörten, als dieser seine Tiraden gegen den „satanischen Westen“ absonderte. Inhaltlich hat Putin in 40 Minuten nichts Neues gesagt. Er werde „unsere Erde mit allen Mitteln verteidigen“. Und die Bewohner der vier Bezirke Donjezk, Luhansk, Saporischja und Cherson seien jetzt „unsere Bürger.“ Die Annexion ist nichts anderes als ein massiver Verstoß gegen die UN-Charta, diesen Schritt werden wohl auch die Chinesen nicht gutheißen. Putin ist in der Sackgasse, ohne Rückwärtsgang. Die Frage, ob er das selbst endlich kapiert hat, lässt sich nicht beantworten
Die Demobilisierung der Wirtschaft
Wie sich ein Putin, der sich selbst ohne Grund in die Enge getrieben hat, verhalten wird, weiß niemand. Ich habe in dieser Woche in Wien den Abgeordneten Roman Kostenko gesprochen. Er kommt aus dem umkämpften Cherson, ist auch Offizier und Sekretär des Ausschusses für Verteidigung im Parlament. Er meint, Selenskyi werde sich durch die Drohungen mit Atomwaffen nicht irritieren lassen und militärisch alles dafür tun, weitere Bereiche des Donbass zu befreien.
Putin hat ja bisher sein Kanonenfutter überwiegend aus nicht-russischen Gegenden seines Reiches rekrutiert. Der sibirische Stamm der Burjaten hat dabei in den Vororten von Kyiv, in Irpin, Butscha und Borodjanka besonders schlimm gewütet. Wir haben das im Juni gesehen. Jetzt wehrt sich etwa die russische Republik Dagestan in der Person ihres Gouverneurs. In der nordkaukasischen Republik sind Russen eine verschwindende Minderheit, Awaren, Darginer und Lesgier sind die größten Volksgruppen, die von dort stammen, alle muslimischen Glaubens. Gouverneur Sergey Melikov protestierte im Fernsehen lautstark dagegen, dass Autos durch sein Land fahren und junge Männer zur Einberufung stellen wollen. Also muss Putin auch in den russischen Städten Soldaten rekrutieren. Der Krieg wirkt also direkt in die russische Gesellschaft hinein. Wenn jetzt aber auch die ehemals begeisterten Propagandisten nicht mehr an den großen Sieg glauben, wird es für den Diktator schwierig werden, die Begeisterung für den „Schutz der russischen Erde“ aufrechtzuerhalten. Denn nun wird auch die russische Wirtschaft den Mangel an gut ausgebildeten Arbeitskräften spüren, die zum Teil in der Armee und zum Teil im Ausland sind. Die Tageszeitung Die Presse zitiert den russisch-stämmigen Chef der Londoner Investmentgesellschaft Movchan`s Group:“Es findet eine totale Dekonstruktion statt. Das ganze Land beschäftigt sich mit der Teilmobilmachung und nicht mit der Arbeit.“ Viele der jungen Männer kommen aus der IT-Industrie, von wo ohnehin seit Februar schon viele Russland verlassen haben.
Iran: die Angst der Mullahs vor Frauenhaaren
Inzwischen muss man auf Twitter schon genau schauen, wenn man Videos von Kundgebungen mit friedlichen Demonstrant_innen und brutalen Polizisten sieht. Russland oder Iran? Wo schlagen die Vertreter der Macht härter zu? Und es gibt noch eine Parallele: Putin kann sich seiner Macht inzwischen ebenso wenig sicher sein wie die Mullahs in Teheran. Wobei in beiden Ländern die Machtkämpfe noch unübersichtlich sind. Im Iran geht offenbar die Lebenszeit von Ajatollah Khamenei zu Ende. Khomeinis 84-jähriger Nachfolger als religiöser Führer soll schon länger krebskrank sein, sein letzter öffentlicher Auftritt war am 10. September. Vor schiitischen Delegierten aus 118 Ländern wirkte er schwach und unkonzentriert. Da sprach er über die Erbfolge, die den Schiiten wichtig sei. Das wurde so gedeutet, dass sein Erbe nur einer seiner Söhne sein könne. Allerdings: diese Passage seiner Rede stand nur kurz auf den iranischen Websites, dann verschwand sie. Zensur gegen den bisher mächtigsten Mann? Als Erbe Khameneis wird schon länger sein Sohn Mojtaba genannt. Er wird von Oppositionellen als brutal beschrieben und dürfte neben religiösen Studien vor allem im Geheimdienst tätig gewesen sein. Das uneinheitliche Vorgehen der iranischen Polizeibehörden und er Revolutionsgarden deutet auf einen Machtkampf verschiedener Gruppen hin. Aber auch dieser Konflikt geht weit über den Iran hinaus. Die Wiener Verhandlungen zwischen dem Iran und den USA zur nuklearen Kontrolle stocken gerade. Außerdem: Wenn Europa sich und seine Werte ernst nimmt, dann müssen wir für Menschen eintreten, die für ihre Rechte eintreten. Wenn man sieht, wie brutal gegen die Frauen im Iran vorgegangen wird, haben sie unsere Unterstützung verdient. Heute um 16 Uhr findet am Wiener Stephansplatz eine Kundgebung für die Frauen im Iran statt.
Österreich: es ginge viel besser
In den letzten Wochen hatte ich Veranstaltungen rund um mein neues Buch „Heilung für eine verstörte Republik“ in Wien, Innsbruck, Kufstein, Klagenfurt und gestern in Dornbirn. Zwischenbilanz: Das interessierte Publikum will Ideen über ein besseres Österreich hören, wie wir mehr Anstand und Aufrichtigkeit in die Politik bekommen, wie politische Entscheidungen transparenter werden können. Aber es wird auch Kritik an den Medien geäußert, weil diese nur den Konflikt beschreiben würden. Ich betone auch jedes Mal, dass die Tätigkeit in der Politik viel mühsamer ist als im Journalismus und kein Chefredakteur (m/w) den Abgeordneten ihr Gehalt niedrig ist, weil sie deutlich besser verdienen. Aber welches Medium würde das schon schreiben? Jedenfalls war jedes dieser Gespräche bereichernd, Österreich braucht mehr Debatten, wie wir die Politik und den öffentlichen Diskurs verbessern. Fortsetzung folgt.
Austausch mit dem ukrainischen Abgeordneten Roman Kostenko